Warum uns Corona nicht in den Kopf will
Wie uns unser logarithmisches Denken in die Irre führt
Corona-Demos, Verschwörungstheorien, vermeintlich übertriebene Maßnahmen und Vertrauensverlust in Politik und Berichterstattung. Das Thema “Corona” hat vielerlei Facetten. Mittlerweile ist die Krankheit ein kaum wegzudenkender Bestandteil unseres Alltags geworden und gleichzeitig beschleicht viele Menschen das Gefühl, dass etwas nicht stimmt. Woher kommt dieses Gefühl? Ist etwas dran an den Bedenken oder gibt es eine einfache Erklärung dafür? In diesem Artikel wollen wir uns diesen sensiblen Fragen stellen.
“Ich kenne niemanden, der an Corona erkrankt ist.” — wer kennt sie nicht, Aussagen wie diese? Auch wenn sich die Häufigkeit mittlerweile relativiert haben sollte und womöglich durch Aussagen über den milden Krankheitsverlauf ersetzt wurde; jeder von uns hat ähnliches von Familie, Freunden oder Bekannten gehört und vielleicht auch selbst von sich gegeben. So subtil und unscheinbar diese Aussagen klingen mögen, so hochgradig wichtig ist es, die Ursachen dieser Beobachtung zu verstehen. Denn nur die richtige Aufklärung führt zu einem angemessenen Umgang mit der Krankheit.
Wieso ich glaube, dass im fehlenden Verständnis des exponentiellen Wachstums ein Grund des vielen Zweifelns begründet ist, möchte ich in diesem Artikel erläutern.
Was ist exponentielles Wachstum?
Das exponentielle Wachstum ist ein oft zitiertes, aber leider äußerst missverstandenes Konzept. Wenn man Personen fragt, ob sie für ein Jahr lieber 10.000 Euro wöchentlich bekommen würden oder stattdessen 1 Cent in der ersten Woche mit einem wöchentlich verdoppelnden Betrag, dann wählen erstaunlich viele die rentablere zweite Variante. Dies ist nicht weiter verwunderlich, da zum einen die Möglichkeit besteht ähnliches bereits gehört zu haben und zum anderen solche Fragen oft auf die kontraintuitive Antwort abzielen. Wie sieht es allerdings aus, wenn wir den Zeitraum halbieren oder gar auf ein Quartal reduzieren? Wird immer noch selbstbewusst zur zweiten Variante gegriffen oder eher zu der “sicheren” 10.000 Euro Variante?
Dieses Beispiel macht eines deutlich: Wissen ist nicht gleich Verstehen. Und dennoch tendieren wir oft dazu beides in einen Topf zu werfen. Lasst uns daher etwas genauer hinsehen.
Wie der Name schon sagt, beschreibt das exponentielle Wachstum, wie sich der Wert einer Bestandsgröße über die Zeit ändert. Die Bestandsgröße kann beispielsweise eine Anzahl von Lebewesen, eine Fläche, der Zinseszins bei einer Geldanlage oder die Konzentration eines chemischen Elements in einer Lösung sein. Dabei ändert sich die Bestandsgröße in regelmäßigen Zeitabschnitten mit einer konstanten Vervielfachung. Dieser Formulierung ist besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Denn die Vervielfachung bezieht sich nicht auf die Anfangsgröße, sondern tatsächlich auf die derzeitige Bestandsgröße! Ein kleiner, aber feiner Unterschied mit enormer Auswirkung — und auch der Grund, warum Politiker davon sprachen, die Epidemie unterschätzt zu haben.
Wir können uns vorstellen, dass ein Landwirt, der für die Ernte eines Ackers einen Tag benötigt, nach fünf Tagen insgesamt die fünffache Ackerfläche geerntet hat. Dies ist eine Rechnung, die sich auf genau einen Referenzwert, und zwar die Größe des Ackers, bezieht. Was wäre aber, wenn der gleiche Landwirt mit jedem weiteren Tag ein Viertel mehr Fläche zum Vortag bearbeiten könnte? Wer glaubt, dass er allein am fünften Tag zwei Felder der gleichen Größe ernten könnte, irrt (es sind mehr). Bei dieser Schlussfolgerung wird fälschlicherweise nur die Anfangsgröße des potenziell bearbeitbaren Ackers miteinbezogen, nicht aber die sich täglich ändernde Bestandsgröße. Die Abschätzung ist etwas kniffliger. Was uns hier Kopfzerbrechen bereitet, ist die Tatsache, dass sich die Erhöhung der Bestandsgröße auf wirklich alle über die vorigen Tage bereits hinzugekommenen Flächen auswirkt, die der Landwirt nun in der Lage ist zu bearbeiten. Die folgende Abbildung vermittelt ein Gefühl für diesen Prozess.
Um die Fläche zu visualisieren, die der besagte Landwirt am fünften Tag ernten kann, sei der interessierten Leserin empfohlen die vorangegangene Abbildung um Tag 5 zu erweitern. Kleiner Tipp: es sollten acht Pfeile und eine Gesamtfläche von ca. 8,21 Äckern zu sehen sein.
Die Auswüchse des exponentiellen Wachstums
Während unser Landwirt unter linearer Arbeitsweise einen Acker pro Tag ernten konnte, also fünf gleich große Felder nach fünf Tagen, so waren es unter seiner exponentiellen Arbeitsweise am fünften Tag allein bereits über 8. Aber hättest du auch gedacht, dass es am zehnten Tag bereits 33 und am fünfzehnten ganze 109 Felder gewesen wären? Dies sind schon sehr ordentliche Zahlen. Wie unvorstellbar das exponentielle Wachstum tatsächlich ist, wollen wir uns hier anhand zweier Beispiele klar machen.
Die Entfernung zwischen Erde und Mond beträgt ungefähr 384.400 km. Wenn wir pro Schritt einen Meter gehen, dann bräuchten wir ganze 384.400.000 Schritte, um diese Entfernung zu überbrücken. Nehmen wir doch mal an, wir starten mit einem Meter, verdoppeln allerdings die Schrittweite mit jedem Schritt. Nach drei Schritten haben wir schon 7 m überbrückt und nach fünf Schritten ganze 31 m. Dies sieht immer noch nicht sehr vielversprechend aus, wenn wir einen Mittagsspaziergang zum Mond planen. Doch jetzt kommt’s. Fünf weitere Schritte genügen, um unseren ersten Kilometer zu erreichen und bereits beim 29. Schritt sind wir nicht nur am Ziel angekommen, sondern haben 40% unseres Rückwegs zurückgelegt! Ein deutlich kürzerer Spaziergang als ursprünglich gedacht.
Ähnlich Verblüffendes erhalten wir in unserem zweiten Beispiel, bei dem wir es mit Reiskörnern auf einem Schachbrett zu tun haben. Wir beginnen wieder mit einem einzelnen Reiskorn auf dem ersten Feld und legen auf jedes weitere Feld doppelt so viele Körner wie auf dem Feld davor. Na, was glaubst du wie viele Körner es auf dem letzten Feld sein werden? Wie viele auf dem Feld insgesamt? Passen die Körner in ein paar Säcke oder benötigen wir doch einen ganzen LKW?
Eines vorweg: wir habe es hier mit gigantisch großen Zahlen zu tun. Auf dem letzten Feld befinden sich unglaubliche 9.223.372.036.854.775.808 Reiskörner und auf dem Schachbrett insgesamt sind es unfassbare 18.446.744.073.709.551.615! Das sind über 18 Trillionen Körner — eine Anzahl mit insgesamt 20 Stellen. Ein LKW wird für diese Reismenge nicht ausreichen. Wir haben es hier mit einer Menge an Reis der letzten 433 Jahre zu tun. Damit könnten wir die Fläche Deutschlands mit einem Meter Reis bedecken.
Unglaubliche Zahlen, nicht wahr? Nicht umsonst sagte der amerikanische Physikprofessor Albert Bartlett, der zum globalen Bevölkerungswachstum forschte, einst: “Das größte Manko der Menschheit ist unsere Unfähigkeit, die Exponentialfunktion zu verstehen”. Ohne auf die Details einzugehen, sei hier erwähnt, dass Exponentialfunktionen eine zentrale Rolle bei der mathematischen Beschreibung von Wachstumsprozessen spielen.
”The greatest shortcoming of the human race is our inability to understand the exponential function.”
(Albert Bartlett)
Oftmals handelt es sich beim exponentiellen Wachstum um einen äußerst schleichenden Prozess, der sich “unter dem Radar abspielt” und schlagartig — scheinbar ohne jeglicher Ankündigung — ins Gegenteil umspringt. Das ist der Grund, der uns bei der Einschätzung von damit verbundenen Gefahren solch Kopfschmerzen bereitet.
Die Exponentialfunktion wächst anfangs langsam und dann immer schneller.
Zur weiteren Verdeutlichung schauen wir uns das Populationswachstum von Bakterien an.
Von Bakterien im Glas
Bakterien vermehren sich meist durch Zweiteilung, soll heißen, aus einer Bakterie werden zwei. Je nach Bakterienart und Umgebung reicht die Dauer einer Zweiteilung von 15 Minuten bis zu mehreren Stunden oder Tagen.
Lass uns eine modifizierte Version von Albert Bartlett’s Gedankenexperiment zu exponentiellen Wachstum in einer endlichen Umgebung durchführen.
Nehmen wir mal an wir haben es mit einer Bakterienart zu tun, die sich jede Minute verdoppelt. Wir setzen um 12:00 Uhr mittags eine einzelne Bakterie in ein Wasserglas und beobachten, dass sich das Glas nach genau einem Jahr, pünktlich zur Mittagszeit um 12:00 Uhr, durch Bakterienvermehrung gefüllt hat.
Wie wir im letzten Abschnitt gelernt haben, war eine Überbevölkerung im Glas abzusehen. Man kann sich hier die Frage stellen, wann der Bakterienstamm geeignete Maßnahmen zur Eindämmung des Populationsanstiegs hätte einführen sollen. Vielleicht bei 70% des eingenommenen Volumens? Vielleicht bei 50% oder gar 10%? Um diese Fragen zu beantworten, sollten wir überlegen, wann das Glas zur Hälfte mit Bakterien gefüllt ist. Falls du denkst, dies wäre nach einem halben Jahr der Fall, dann muss ich dich leider enttäuschen. Tatsächlich ist das Glas eine Minute bevor es völlig gefüllt ist, halbvoll — das heißt am letzten Tag des Jahres, um 11:59 Uhr! Wie das sein kann? Nun ja, gemäß unserer Annahme führt jede einzelne Bakterie pro Minute eine Zweiteilung durch. Somit verdoppelt sich die gesamte Population auch jede Minute.
Damit ist das Glas um 11:58 Uhr zu einem Viertel gefüllt und zu einem Achtel um 11:57 Uhr. Fünf Minuten vor 12 haben die Bakterien gerade einmal ca. 3% eingenommen, wobei sie weitere zwei Minuten davor — um 11:53 Uhr — nicht einmal 1% des Glases bevölkern. Dies muss man sich nochmal auf der Zunge zergehen lassen. Das gesamte Jahr über, bis zum allerletzten Tag, füllen die Bakterien weit unter 1% des Glases aus.
An dieser Stelle möchte ich betonen, dass bakterielles Wachstum natürlich viel komplexer ist als hier dargestellt und verschiedene Phasen durchläuft. Auch ist die gewählte Dauer von einem Jahr astronomisch hoch angesetzt. Die Bakterienanzahl würde nach nicht einmal fünf Stunden die Anzahl der Atome in unserem sichtbaren Universum überschreiten.
Warum also dieses Beispiel, das zugegebenermaßen ein mathematischer Extremfall ist? Es geht hier um die Lektion, die wir lernen können. Kannst du dich daran erinnern als die Ungenauigkeit von PCR-Tests die Runde machte und den Tests unterstellt wurde sie besäßen keine Aussagekraft?
Stell dir vor, einige Wissenschaftler unter dem Bakterienstamm warnen inmitten des Jahres davor, der Lebensraum würde bald knapp werden und dies zu einem großen Massensterben führen. Kurze Zeit später sind die Medien voll davon, Bakterien aus unterschiedlichen wissenschaftlichen Bereichen kommen zu Wort, es gibt Befürworter und Kritiker, es werden Maßnahmen zur Eindämmung des Populationswachstums diskutiert, ebenso wird die derzeitige Populationsgröße überprüft. — Und dann stellt sich heraus, dass die Tests zur Bestimmung der Populationsgröße sehr ungenau sind. Dies bietet den Kritikern neuen Zündstoff und was als nächstes passiert, können wir bereits erahnen. Die Argumentationen drehen sich von nun an um die Aussagekraft der Tests sowie den noch freien Lebensraum von weit über 99,99%. Gleichzeitig beginnen viele Bakterien der Population an dem Wahrheitsgehalt der Diskussionen zu zweifeln und führen ihr normales Leben fort. Denn es hat sich ja “nichts” geändert.
Die Frage, die wir uns stellen müssen, ist, ob die Art und Weise, wie über die Ungenauigkeit der Corona-Tests diskutiert wird, am eigentlichen Kernproblem vorbei geht. Eines ist klar: Die richtige Interpretation der Testdaten ist entscheidend, um unsere Lage besser verstehen und darauf basierend vernünftige Entscheidungen treffen zu können. Allerdings bezweifle ich, dass kurz gedachte Pauschalaussagen wie “PCR-Tests sind wertlos, da sie viel zu viele falsch-positive Ergebnisse bringen” oder “der Inzidenzwert ist aktuell Null” dabei helfen. Auf die statistische Einschätzung der Corona-Tests einzugehen, würde hier den Rahmen sprengen. Daher verweise ich auf die Übersicht “Corona-Schnelltest-Ergebnisse verstehen” vom Robert Koch Institut, die die damit verborgenen Hürden sehr gut widergespiegelt.
Was hat Corona mit exponentiellem Wachstum zu tun?
… das ist die richtige Frage. Und wie du bereits ahnst oder wusstest, gibt es eine Beziehung zwischen der Ausbreitung von Corona und diesem Wachstum. Zur Veranschaulichung betrachten wir die Infografik aus einem Tweet von Gary Warshaw.
Hier wird nochmals deutlich, wie eine harmlos wirkende Anzahl an Infizierten nach einer gewissen Zeit explodieren kann. Auch sieht man, dass nach 30 Tagen eine Verringerung der Kontakte um 75% nicht zu 75% weniger Infizierten führt, was ca. 101 Infizierten entspräche, sondern ganzen 99,38%. Die Grundannahme für diese Zahlen ist, dass sich infizierte Personen nach fünf Tagen in Quarantäne begeben und keine weiteren Personen anstecken. Wir können aber auch den anderen Extremfall betrachten, nämlich, dass sich die Infizierten nicht in Quarantäne begeben und die Ausbreitung weiter vorantreiben. In diesem Fall steigt die Anzahl der Infizierten nach 30 Tagen bei 75% Kontaktverringerung von 2,5 auf 18, bei 50% Kontaktverringerung von 15 auf 130 und ohne Kontaktverringerung von 406 auf 1838.
Vergleichsweise kleine kontaktbezogene Verhaltensänderungen können also zu sehr großen Unterschieden in der Infektionsanzahl führen können. Mit den Extremfällen “alle Infizierten gehen in Quarantäne” und “niemand der Infizierten geht in Quarantäne” haben wir eine weitere Variable eingeführt, wobei die Extremfälle selbst als Schranken dienen. Dies erscheint sinnvoll, wenn wir davon ausgehen, dass einige Infizierte leichte bis gar keine Symptome aufweisen und somit an der weiteren Ausbreitung beteiligt sind. Auch wenn mit dieser neuen Komplexitätsebene die Interpretation von vorliegenden Daten erschwert wird, haben wir es hier mit einem äußerst einfachen mathematischen Modell zu tun haben, das nicht ansatzweise an die Komplexität der Realität herankommt. Dennoch sollten wir die Ergebnisse ernst nehmen, gerade im Hinblick auf die Problematik mit den vermeintlich Gesunden.
Wie wird die Ausbreitung also in der Praxis bestimmt?
Eine relativ einfache Möglichkeit die Ausbreitung der Krankheit zu modellieren, bietet die Logistische Gleichung
Und hier machen sich unsere Vorüberlegungen bezahlt. Die Lösung dieser Gleichung kann nämlich in der Anfangsphase mit einer Exponentialfunktion beschrieben werden. Der Vorteil der Lösung ist aber, dass sie einen S-förmigen Verlauf hat, das heißt im Gegensatz zum exponentiellen Wachstum nicht unendlich wächst, sondern nach einer gewissen Zeit abflacht und somit die Realität besser widerspiegelt.
Um mit einem weiteren Vorurteil aufzuräumen, nämlich man hätte schon im Sommer letzten Jahres alles Nötige zur Pandemie “gewusst”, noch paar Worte zur Abschätzung der Parameter. Wie zuverlässig die Abschätzung der Wachstumsrate in der Anfangsphase des Modells ist, hängt sensibel von der Korrektheit der Daten ab. Und um die Maximalanzahl der Infizierten — und den damit wichtigsten Parameter — im Folgemodell zu bestimmen, muss zusätzlich eine hinreichend große Zahl an Infizierten vorliegen.
Falls du mehr über die mathematische Modellierung von COVID-19 mit Hilfe des Verallgemeinerten Logistischen Modells und des Verallgemeinerten Richards Modells erfahren möchtest, verweise ich auf das Paper “Generalized logistic growth modeling of the COVID-19 outbreak: comparing the dynamics in the 29 provinces in China and in the rest of the world”. Abschätzungen zu den Funktionsparametern findest du hier und hier.
Unser logarithmisches Denken
Wir haben bis jetzt sehr viel über exponentielles Wachstum geredet und uns seine unintuitiven Konsequenzen bewusst gemacht. Was der Ursprung seines rätselhaften Schleiers ist, liegt in dieser einfachen Frage verborgen:
Welche Zahl liegt in der Mitte zwischen 1 und 9?
Wenn du die Frage mit “5” beantwortet hast, befindest du dich in guter Gesellschaft. In der industrialisierten Welt wählen wir üblich die 5, da sie sowohl 4 Einheiten von der 1 als auch der 9 entfernt ist. Interessanterweise zeigen Untersuchungen, dass Kinder im Vorschulalter dazu tendieren diese Frage mit “3” zu beantworten. Auch zeigte eine Studie um Stanislas Dehaene, dass die Munduruku — ein indigenes Volk aus dem brasilianischen Amazonas — sogar im Erwachsenenalter dazu tendieren die “3” als Lösung zu wählen. Was ist hier los?
Was die Teilnehmenden der Studien intuitiv erkannten, ist, dass sich die Zahlen 1, 3, 9 der Reihe nach um den Faktor 3 unterscheiden. Noch deutlicher wird der Zusammenhang, wenn wir die Potenzschreibweise verwenden. Mit ihr erhalten wir 3⁰, 3¹, 3² und somit eine Erklärung, warum die 3 als “Mitte” zwischen 1 und 9 interpretiert wurde — es handelt sich hier um die logarithmische “Mitte”.
Aber was ist der Logarithmus eigentlich? Mathematisch betrachtet, handelt es sich dabei um eine Schar von Funktionen, die Vielfache voneinander sind und besondere Eigenschaften besitzen wie beispielsweise eine Multiplikation in eine Addition umwandeln zu können. Zugegeben sehr abstrakt, merke dir einfach: Der Logarithmus ist der Exponent einer Potenz. Das heißt, haben wir eine konkrete Zahl vorliegen, so gibt der Logarithmus (zur Basis a) an, wie oft der Faktor a in dieser Zahl enthalten ist.
Nun waren die Studienteilnehmenden sicherlich keine Profis im Logarithmieren von Zahlen. Und so drängt sich uns die Frage auf, weshalb so eine enge Beziehung zwischen dem Logarithmus und der von äußeren Einflüssen bewahrten, menschlichen Intuition besteht. Was die Teilnehmenden faktisch taten, und was wir unbewusst sehr oft tun, war, der Differenz von kleinen Zahlen eine größere Skala zuzuordnen als der gleichen Differenz bei größeren Zahlen. Soll heißen, die Zahlen 1 und 2 liegen für sie weiter auseinander als die Zahlen 8 und 9. Evolutionstechnisch macht das auch durchaus Sinn. Es macht einen deutlichen Unterschied, ob in einer Gefahrensituation ein oder zwei Angreifer involviert sind. Bei einer Größenordnung im zweistelligen Bereich, ist ein Angreifer mehr oder weniger eher irrelevant.
Zusammenfassend können wir sagen:
Je größer eine Bestandsgröße wird, desto weniger Bedeutung messen wir einer Änderung zu.
Hierin fußt die Beziehung zwischen unserer Wahrnehmung und dem Logarithmus, auch bezeichnet als Weber-Fechner-Gesetz, denn:
Der Logarithmus wächst anfangs schnell und dann immer langsamer.
Er ist sowohl die mathematische Analogie zu dem, wie wir die Welt wahrnehmen, als auch ein mathematisches Werkzeug, das uns die Welt begreifbar macht. Egal ob bei dem Durchmesser von Bäumen, den Lebenszyklen von biologischen Arten, der Bilanzgröße von amerikanischen Banken oder der Korrosion von Metallen, überall ist er zu finden. Wir müssen nicht wissen, was er ist. Er ist ist sozusagen in uns einprogrammiert und die Erklärung dafür, warum wir Größenordnungen sehen und interpretieren können. Das Überraschende ist, dass wir nicht die einzigen Lebewesen sind, deren Zahlensinn auf einer logarithmischen Skala beruht. Unter anderem konnte dies bei Krähen nachgewiesen werden.
Zurück zu unserem eingangs erwähnten Experiment. Dass wir die “5” wählen, hat kulturelle Gründe. Unser Schulsystem lehrt uns lineares Denken, das unser späteres Leben stark prägt. Dennoch können diese wenigen Jahre unsere Jahrmillionen alte evolutionäre Entwicklung nicht ersetzen. Sobald wir mathematische Symbolik durch Mengen oder Punkte ersetzen, kommt unsere logarithmische Denkweise zum Tragen.
Kurz gesagt: Wir sehen die Welt logarithmisch.
Ich mach’ mir die Welt wie sie mir gefällt
Da sind wir nun — nach Antworten suchende Lebewesen mit einer logarithmischen Wahrnehmung, die einer Pandemie gegenüberstehen, die zumindest in der Anfangsphase exponentiell wächst. Lass uns nochmal die zugrunde liegenden Eigenschaften ins Gedächtnis rufen.
- Der Logarithmus wächst anfangs schnell und dann immer langsamer.
- Die Exponentialfunktion wächst anfangs langsam und dann immer schneller.
Wir haben es mit zwei entgegengesetzten Wachstumsprozessen zu tun, die sich gegenseitig aufheben und dabei unter Umständen ein lineares Wachstum liefern — das heißt jenes, welches wir von der Schule her kennen. Salopp gesagt ist der Logarithmus das Gegenteil der Exponentialfunktion.
Was bedeutet das für uns?
Exponentielles Wachstum ist für uns unsichtbar.
Auch wenn wir in der Anfangsphase womöglich ein Wachstum erkennen, bleibt uns die exponentielle Komponente verborgen. Unsere Sinne könnten es nicht einmal von einem nicht-exponentiellen Wachstum unterscheiden.
Die Botschaft ist klar. Wenn sich die Pandemie exponentiell ausbreitet und sich dies in den Zahlen widerspiegelt, so dürfen wir nicht auf unser Bauchgefühl hören. Unsere menschliche Intuition ist schlichtweg falsch. Wir sind angewiesen auf mathematische, statistische und Computer-gestützte Interpretationen, die selbst nur Näherungen der Realität darstellen und gegebenenfalls auf einer verzerrten Datengrundlage beruhen — das ist das Beste was wir haben.
Nun ist es aber so, dass wir Menschen die Welt und die Geschehnisse um uns herum verstehen und ordnen möchten — wir möchten ihnen einen Sinn geben. Hierzu nehmen wir Vereinfachungen vor und bilden Kausalzusammenhänge, wo oftmals (vielleicht sogar meist) keine sind. Auch wenn wir meinen, die Welt objektiv zu sehen, betrachten wir sie durch unsere individuellen Brillen, die unsere Erfahrungen formen. Unsere Erklärungen wiederum beruhen auf den zugehörigen Grundannahmen — wir erfinden unsere eigenen Wahrheiten. Problematisch wird es, wenn wir es mit einer unsichtbaren Gefahr zu tun haben.
“What we believe with all our hearts, is not necessarily the truth.”
(Elizabeth Loftus)
Umso wichtiger ist es unsere Grundannahmen zu überprüfen. Dass falsche Annahmen zu falschen Schlüssen führen, darauf muss ich nicht eingehen. Gewisse Aussagen machen unter der einen Annahme Sinn und sind unter einer anderen hinfällig. Mit dem Bakterienbeispiel im Hinterkopf; wie sinnvoll erscheinen da noch die Aussagen “es gibt doch genug Intensivbetten” und “steigende Zahlen sind der Beweis dafür, dass die Maßnahmen nichts bringen”?
Zu wissen, dass es Dinge gibt, die wir nicht wahrnehmen können, aber dennoch einen enormen Einfluss haben, ist eine Grundvoraussetzung die Welt besser zu verstehen.
Fazit
Beim exponentiellen Wachstum handelt es sich um einen Prozess, der für uns Menschen aufgrund unserer logarithmischen Wahrnehmung gerade in der Anfangsphase unsichtbar ist und dann förmlich explodiert.
Da die Ausbreitung von Corona offenbar den Regeln des exponentiellen Wachstums gehorcht, unterschätzen wir die tatsächliche Gefahr. Mehr noch, verschiedene psychologische Effekte führen dazu, dass wir die Krankheit weniger ernst nehmen und gegebenenfalls massiv an der von ihr ausgehenden Bedrohung zweifeln. Das kann mit einer Nachlässigkeit im Alltag und einer gefühlten Nicht-Nachvollziehbarkeit der Maßnahmen einhergehen.
Corona-bezogene Kritik zielt oft auf vermeintliche Unstimmigkeiten ab, die bei näherer Betrachtung hinfällig werden. Zum Beispiel liefern mehr Tests nicht nur mehr falsch-positive, sondern auch mehr falsch-negative Ergebnisse, wobei beide Varianten von der zugrunde liegenden Verteilung abhängen und gemäß unserer Vorüberlegung gerade die falsch-negativen problematisch sind.
Auch wenn die Fallzahlen nicht akurat sind, kann ich jedem nur nahelegen, sie als Signal für ein vorhandenes, tiefverwurzeltes Problem zu verstehen und die Kontaktbeschränkungen ernst zu nehmen.
Dieser Artikel ist natürlich nur ein kleiner Ausschnitt der Überlegungen, die zum Verständnis unserer Situation beitragen. Um das gesamte Bild zu überblicken, müssen wir weitere Themenfelder miteinbeziehen wie die Statistik, Medizin und Computersimulation. Wir müssen verstehen wie die Psychologie der Massen funktioniert, da sie politische Grenzen vorgibt, die unter Umständen sehr unlogisch sind. Zu guter Letzt sollten wir uns bewusst machen, dass all unser Wissen begrenzt ist und die Welt, in der wir leben, ein Black Swan geprägtes, hochgradig komplexes System ist. Infolgedessen ist Bescheidenheit angebracht und Finger-Pointing à la Captain Einsicht fragwürdig.
Vielleicht befinden wir uns schlicht und ergreifend in einer unbeherrschbaren Situation. Wir wissen es nicht.
Vielen Dank, dass du dir die Zeit genommen hast, meinen Artikel zu lesen! Ich hoffe, du konntest etwas Positives mitnehmen und verabschiede mich mit einer Frage, die mich sehr zum Nachdenken gebracht hat:
Welche Vorstellung ist beängstigender? Eine Elite, die die Welt kontrolliert oder ein zufälliges Ereignis, auf das niemand eine Antwort kennt?
Anhang
Der Lesbarkeit wegen wurde nicht genannt, aber implizit angenommen, dass die Basen der Exponential- und Logarithmusfunktionen größer als 1 sind. Unter dieser Voraussetzung haben wir es tatsächlich mit einem “Wachstum” zu tun. Für positive Basen kleiner als 1 sind die Funktionen fallend, das heißt sie beschreiben einen Zerfall.
Einen Hinweis, dass generell auch positive Basen kleiner als 1 zulässig sind, ist in der Definition “[es] ändert sich die Bestandsgröße in regelmäßigen Zeitabschnitten mit einer konstanten Vervielfachung” zu finden. Hier wurde das Wort “ändert” anstatt “wächst” verwendet. Eventuell wäre “Faktor” anstatt “Vervielfachung” der bessere Begriff gewesen; jedoch wollte ich mathematische Begriffe weitgehendst vermeiden.
Im Abschnitt ”Ich mach’ mir die Welt wie sie mir gefällt” rede ich davon, dass die Komposition (Hintereinanderausführung) einer Logarithmus- und Exponentialfunktion “unter Umständen ein lineares Wachstum liefer[t]”. Falls du dich fragst, ob das denn nicht immer so ist, dann denkst du womöglich an den Standardfall
mit Basis
Dies ist offensichtlich eine lineare Funktion. Meine Aussage umfasst daneben noch den allgemeineren Fall mit unterschiedlichen Basen. Mit
und dem Quotienten
wobei ln(x) der natürliche Logarithmus ist, erhalten wir die Gleichungen
Auch hier ist die linke Gleichung eine lineare Funktion, die rechte allerdings eine Potenzfunktion, was meine Wortwahl “unter Umständen” erklärt. Wenn wir a=b wählen, so wird m=1 und wir erhalten den Standardfall. Das eigentlich Interessante daran ist, dass für a>1 und b>1 sowohl die lineare Funktion als auch die Potenzfunktion beide langsamer wachsen als alle Exponentialfunktionen und schneller als alle Logarithmusfunktionen. In der Tat kann man also sagen, dass sich die beiden Wachstumsprozesse “gegenseitig aufheben”.