Wie viel Platz nehmen die rationalen Zahlen ein?

Die paradoxe Welt der Unendlichkeit

Krystian Gaus
8 min readDec 17, 2020

Die Frage mag anfangs etwas seltsam erscheinen. Schließlich lernen wir in der Schule, dass eine Zahlengerade aus allen Zahlen besteht — ohne dass tatsächlich darauf eingegangen ist, was dies überhaupt bedeutet. Macht es dann nicht Sinn, dass die Zahlen auf dem Zahlengeradenabschnitt zwischen 0 und 1 zusammen die Länge 1 ergeben? Schließlich ist doch der Zahlengeradenabschnitt so lang. Auf der anderen Seite besitzt eine einzelne Zahl keine räumliche “Ausdehnung”, und hat somit keine “Länge”. Können denn überhaupt ausdehnungslose Objekte etwas mit Ausdehnung erschaffen?

Um Zahlen zu visualisieren, nehmen wir uns oft eine Gerade zur Hilfe. Auf dieser tragen wir in regelmäßigen Abständen die ganzen Zahlen als Punkte ein.

Auffällig ist hier die gähnende Leere zwischen den Zahlen. Doch auch diese können wir mit weiteren Zahlen füllen, den sogenannten rationalen Zahlen (Bruchzahlen). Und hier wird es interessant. Egal wie erschöpfend viele rationale Zahlen wir der Zahlengeraden hinzufügen, wir können immer weiter an die Gerade heranzoomen und weitere Zahlen hinzufügen.

Eine Zahlengerade ist sehr dicht mit rationalen Zahlen besetzt

Es ist sogar so, dass sich zwischen zwei beliebig nahe liegenden rationalen Zahlen unendlich viele weitere rationale Zahlen befinden!

Doch Moment mal. Ist es nicht so, dass wir irgendwann eine Linie erhalten, wenn wir mit einem Stift händisch sehr viele Punkte zwischen 0 und 1 einzeichnen? Das stimmt — hat jedoch zunächst etwas mit der Dicke des Stifts zu tun, weshalb uns unsere Intuition leicht in die Irre führen kann. In der Mathematik sind Zahlen und Zahlengeraden abstrakte Objekte, die zwar der Intuition entsprungen, tatsächlich aber schwer im streng formalen Kontext zu verstehen sind. Ein gezeichneter Punkt (Zahl ohne räumliche Ausdehnung) oder eine gezeichnete Linie (Zahlengeradenabschnitt mit Länge, aber ohne “Dicke”) sind nur Visualisierungen dieser Objekte, die unserer Vorstellungskraft behilflich sind.

Festhalten können wir aber, dass eine (gezeichnete) Zahlengerade als optische Hilfe eine Relation der Zahlen zueinander angibt.

Wir haben bereits in der Einleitung erwähnt, dass eine Zahlengerade als aus allen Zahlen bestehend aufgefasst werden kann. Genau genommen ist eine Zahlengerade die Veranschaulichung aller Zahlen als Punkte auf einer Geraden. Mit “alle” meint man hier die reellen Zahlen, die neben den rationalen auch die irrationalen Zahlen umfassen. Wir werden später nochmal darauf eingehen. Für unsere Zwecke genügt diese Definition.

Wir halten fest: Eine einzelne Zahl besitzt auf der Zahlengeraden zwar eine Position, jedoch keine Länge.

Wie kommt also die Länge eines Zahlengeradenabschnitts, einem sogenannten Intervall, zustande? Kann unendlich mal 0 eine Länge ergeben? Wird die Länge vielleicht durch unendlich viele sehr dicht beieinander liegende Zahlen erzeugt?

Idee zur Bestimmung des eingenommenen Platzes

Um den eingenommenen Platz der rationalen Zahlen auf der Zahlengeraden zu bestimmen, geht man ähnlich vor wie beim Verlegen eines Teppichbodens. In der Regel überdeckt man den Boden mit Teppich-Stücken, die zusammengenommen größer sind als die Fläche des Bodens selbst und entfernt anschließend den Überschuss.

Im Reich der Mathematik verwenden wir entsprechend Intervalle, also Zahlengeradenabschnitte. Diese haben eine Länge und “überdecken” somit problemlos eine Zahl, die einem Punkt auf der Zahlengeraden entspricht. Die Idee ist, jeder einzelne rationale Zahl mit jeweils einem Intervall zu überdecken. Die Intervall-Längen nehmen zusammenaddiert auf jeden Fall mehr “Platz” ein, als die überdeckten Zahlen selbst und eignen sich daher hervorragend für eine Abschätzung der Ausdehnung dieser Zahlen.

Wir sehen schon worauf dies hinausläuft. Da wir unendlich viele Zahlen vorliegen haben, wird die Gesamtlänge der Intervalle unendlich oder endlich sein. Ersteres hilft uns nicht weiter und daher hoffen wir auf zweiteres.

Du fragst dich jetzt vielleicht, wie die Summe von unendlich vielen Längen endlich sein kann. Nur zur Erinnerung: Wir sind in der Mathematik, da darf man etwas verrückt sein ;)

Sind unendlich viele Intervalle zusammengenommen nicht unendlich lang?

… nicht unbedingt! Wir behelfen uns hierbei mit einem Trick.

Für das erste Intervall wählen wir eine Länge von ½, für das zweite ¼, danach ⅛ usw. Anders formuliert halbieren wir die Länge jedes folgenden Intervalls. Es mag verwundern, aber obwohl nun unendlich viele Intervalle vorhanden sind, ist die Summe der Intervall-Längen gleich 1 wie man im Schaubild sehen kann:

Wie eine unendliche Summe ein endliches Ergebnis liefern kann

Im folgenden bleiben wir bei diesen Intervallen. Wenn wir vom “ersten” Intervall sprechen, dann meinen wir ein Intervall mit Länge ½, unabhängig davon wo wir dieses Intervall auf der Zahlengeraden legen. Entsprechend wird das zweite Intervall die Länge ¼ haben und das dritte die Länge ⅛.

Eine Liste aller rationaler Zahlen

Es ist schwer vorstellbar wie unendlich viele Intervalle, die zusammengenommen eine endliche Länge haben, unendlich viele rationale Zahlen auf einer unendlich langen Zahlengeraden überdecken sollen. Vor allem weil zwischen zwei beliebigen Zahlen — wie nahe sie auch immer sein mögen — sich weiterhin unendlich viele andere Zahlen befinden.

Dies ist auch gar nicht so einfach. Probiere es am besten selbst mal aus bevor du weiterliest!

Beispielsweise könnte man die Zahlen 1, 2, 3, 4, … mit unseren oben definierten Intervallen überdecken oder aber die Zahlen 1, ½, ⅓, ¼, ….

Betrachtet man die folgende Abbildung, so sieht man das Problem. Im ersten Fall hätte man nur alle positiven ganzen Zahlen überdeckt und hätte riesige Lücken dazwischen, im zweiten Fall wären unendlich viele Zahlen zwischen 0 und 1,25 überdeckt, jedoch nicht einmal alle und sogar gar keine außerhalb dieses Bereiches. Man könnte sagen, die unendlich vielen Intervalle gehen einem aus bevor alle rationalen Zahlen überdeckt wurden.

Zwei fehlgeschlagene Überdeckungsversuche. Man beachte die Lücken zwischen den Intervallen.

Wie schaffen wir es also wirklich alle rationalen Zahlen mit jeweils einem Intervall zu überdecken, ohne dass uns diese vorher ausgehen? Gerade im Hinblick darauf, dass sich zwischen zwei beliebig dicht beieinander sitzenden Zahlen weitere unendlich viele Zahlen verbergen?

Hierzu müssen wir es schaffen die Zahlen in eine Reihenfolge bringen — egal wie. Die Größenordnungen der Zahlen spielen dabei keine Rolle. Hauptsache die Liste ist vollständig.

Genauer: Wir müssen die rationalen Zahlen vollständig durchnummerieren und sie somit jeweils einem Intervall zuordnen.

Dies gelingt uns mit Cantors ersten Diagonalargument. Dabei werden alle rationalen Zahlen in einem zwei-dimensionalen Schema aufgetragen und schlangenlinienartig durchlaufen. Mehrmals auftauchende Zahlen, also alle nicht vollständig gekürzten Brüche, überspringt man dabei (im folgenden Bild mit einem (.) markiert).

Mit Cantors Verfahren schaffen wir es alle positiven rationalen Zahlen in eine Reihenfolge zu bringen

Indem wir noch die 0 hinzufügen und die positiven Zahlen mit ihren entsprechenden negativen Partnerinnen abwechseln, erhalten wir eine Liste mit allen rationalen Zahlen und haben sie damit in die gewünschte Reihenfolge gebracht.

Durch Hinzunahme der 0 und den negativen rationalen Zahlen erhalten wir eine vollständige Liste der rationalen Zahlen

Das Überdecken beginnt

Wir haben gute Vorarbeit geleistet, alle rationalen Zahlen durchnummeriert und Intervalle mit den Längen ½, ¼, ⅛, … gebildet, die zusammengenommen die Länge 1 ergeben. Wir können ans Eingemachte gehen!

Wir beginnen unsere erste Zahl — die 0 — mit unserem ersten Intervall der Länge ½ zu überdecken. Es folgt die Überdeckung unserer zweiten Zahl — der 1 — mit dem zweiten Intervall der Länge ¼. Die Zahl -1 wird mit unserem dritten Intervall der Länge ⅛ überdeckt und die Zahl ½ mit unserem vierten Intervall der Länge 1/16. Dabei sollen die Intervalle so gelegt werde, dass sich die Zahlen zentriert unter ihnen befinden. Dies führen wir unendlich oft fort.

Voila, auf diese Weise überdecken wir alle(!) rationalen Zahlen mit jeweils einem Intervall. Insbesondere wissen wir nun, dass die eingenommene Länge all dieser Zahlen nicht größer als 1 sein kann.

Dies ist ein faszinierendes Zwischenergebnis, wenn man bedenkt, dass diese unendlich vielen Zahlen die unendlich lange Zahlengerade derart dicht bedecken und der eingenommene Platz dennoch so begrenzt ist! Mich erstaunt dieser Sachverhalt jedes mal auf Neue.

Wie viel Überschuss haben wir?

Wir haben eine Obergrenze für den eingenommenen Platz bestimmt und leiten im nächsten Schritt den tatsächlich eingenommenen Platz her. Als Idee nehmen wir uns das oben genannte Beispiel des Teppichverlegens zum Vorbild. Hier stehen nach dem Auslegen einige überschüssige Ränder über. Nach dem Abschneiden dieser Ränder, ist der Fußboden vollständig überdeckt und beide Flächen — sowohl die des Fußbodens als auch die des Teppichs — stimmen überein.

Lasst uns eine Überlegung dazu anstellen. Wir haben bei der Überdeckung der Zahlen darauf geachtet, dass sie zentriert unter dem Intervall liegen. Wenn wir also bei allen Intervallen beidseitig im gleichen Verhältnis etwas “abschneiden” und somit ihre Längen halbieren, dann sind weiterhin alle Zahlen mit Intervallen überdeckt. Die Gesamtlänge der Intervalle ist dann aber nur noch halb so lang, also ½.

Warum nicht eigentlich direkt mehr “abschneiden” und die Gesamtlänge auf ein Hundertstel oder gar Tausendstel verkürzen?

Ich schätze wir sehen worauf das hinausläuft. Wir können die Intervalle im gleichen Verhältnis beliebig klein machen und somit die ursprünglich aufsummierte Gesamtlänge der Intervalle von 1 beliebig verkleinern. Oder wie wir Mathematiker gerne sagen, “gegen 0 konvergieren” lassen.

Wir kommen zu dem verblüffenden Ergebnis, dass die rationalen Zahlen auf der Zahlengeraden trotz ihrer sehr dichten Besetzung keinerleich “Platz” oder “Ausdehnung” in Anspruch nehmen.

Fazit

Wie wir gezeigt haben, nehmen die rationalen Zahlen auf der Zahlengeraden die Länge 0 an. Dabei haben wir eine wichtige Eigenschaft der rationalen Zahlen ausgenutzt, und zwar, sie durchnummerieren zu können oder in eine Reihenfolge zu bringen. Man spricht hier von abzählbarer Unendlichkeit.

Einerseits scheint das Ergebnis intuitiv klar zu sein, denn wie sollen Objekte, die selbst die Länge 0 haben, etwas mit positiver Länge erschaffen? Andererseits ist es doch verblüffend, dass die rationalen Zahlen die Zahlengerade so dicht besetzen, aber dennoch so “löchrig” sind, dass sie keine Ausdehnung auf ihr einnehmen. Die Dichtheit ist hier besonders hervorzuheben. Denn es handelt sich hierbei nicht um dicht beieinander liegende Objekten im Sinne unserer physikalischen Welt. Selbst die hohe Dichte an Materie innerhalb eines schwarzen Lochs ist astronomisch hoch im Gegensatz zu der hier betrachteten mathematischen Dichtheit. Nicht einmal die kleinste mögliche physikalische Länge — die Planck-Länge — kommt ansatzweise an die Skala heran, von der wir hier reden (zur Visualierung der Planck-Länge verweise ich hier auf das großartige Video The Scale of the Universe).

Was macht also eine Zahlengerade zu einem “lückenlosen” Objekt, einem Kontinuum (vergl. Kontinuum (Physik))? Das Geheimnis liegt in den irrationalen Zahlen. Dies sind Zahlen wie √2, die Kreiszahl π oder die eulersche Zahl e — und die haben es in sich. Sie sind nicht nur verantwortlich für einen Großteil der mathematischen Eigenschaften, die wir als Selbstverständlichkeit betrachten. Auch ist deren Unendlichkeit bei Weitem “größer” als jene der besprochenen rationalen Zahlen. Von den irrationalen Zahlen gibt es so unvorstellbar viele, dass jeder Versuch sie in eine Liste zu zwängen, scheitert. Eine Nummerierung ist nicht möglich — sie sind überabzählbar unendlich. Und genau diese Eigenschaft ist verantwortlich für den “lückenlosen” Zustand der Zahlengeraden. Besonders erstaunlich ist diese Tatsache, da zwischen zwei irrationalen Zahlen stets unendlich viele rationale Zahlen auffindbar sind (und umgekehrt).

Die Unendlichkeit ist, so einfach sie zu Beginn erscheinen mag, doch ein unzähmbares Monster, das mit unzähligen Paradoxien unseren rationalen Verstand auf die Probe stellt und zeigt, dass wir unserer Intuition nicht immer trauen dürfen.

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