Ekelhafter geht immer
Wie die BILD Intensivmediziner diffamiert
Es gibt wohl kein anderes Boulevardblatt, das so viel Hetze und Falschinformationen verbreitet wie die BILD. Die Liste an Kontroversen ist endlos und deren Grad wurde stets erfolgreich auf ein neues Level gehoben. Für eine gute Story macht BILD-Meinungschef Filipp Piatov nicht einmal vor Verstorbenen halt.
Kritisiert wird in dem YouTube-Beitrag Corona-Schock-Prognosen, dass um Weihnachten nur 4200 Corona-Patienten in den Krankenhäusern lagen anstatt der prognostizierten 6000 Personen. Was solch Zahlen tatsächlich bedeuten und wie mathematische Modelle funktionieren, das wird gekonnt ignoriert. Viel mehr noch: Eine dem Team vorliegende Erklärung der Zahlen-Diskrepanz wird bewusst in Frage gestellt, um sie zur Diffamierung von Intensivmedizinern zu instrumentalisieren.
Die Faktenlage
Brechen wir den gesamten Beitrag auf den eigentlichen Inhalt herunter, so könnte der “Bericht” aus Sicht der BILD folgendermaßen aussehen:
Entgegen der prognostizierten 6000 Corona-Intensivpatienten lagen zur Weihnachtszeit nur rund 4200 Personen auf den Intensivstationen. Laut DIVI war die Sterblichkeit höher als von den Modellierern angenommen. Das heißt es wurden sehr viel mehr Betten frei, weil unerwartet viele Menschen auf den Intensivstationen gestorben sind. Wir glauben, die DIVI lügt. Unserer Ansicht nach war die Prognose definitiv falsch. Eine Begründung für unsere Annahme haben wir nicht.
Ein relativ überschaubarer Beitrag, der eine unbegründete Unterstellung enthält und mehr Fragen offen lässt als tatsächliche Antworten liefert. Zuspruch ist undenkbar, könnte man meinen. Doch entgegen dieser Annahme sind die Kommentare von beängstigender Zustimmung geprägt. Das RKI mache Fehler, ist der Tenor, Glaubwürdigkeit sei nicht vorhanden. Eine Person schreibt, das seien gar keine Fehler, “wir werden bewusst getäuscht”. Es ist sogar von ehrlichen und kritischen Journalismus die Rede.
Auch weitere Attribute wie Wahrheit, Ehrlichkeit und Aufklärung werden der BILD in den Kommentaren zugesprochen. Einige Kommentatoren sehen sich in ihrem eigenständigen und kritischen Denken bestätigt:
“Bitte BILD bleibt dran und klärt auf , vielen herzlichen Dank !”
“Das BILD sich traut die Wahrheit zu berichten, ist fast schon beängstigend.”
“Danke BILD für den ehrlichen Beitrag!”
“Vielen Dank dafür, dass ihr so hartnäckig in der Recherche seid.”
“ICH BIN GLÜCKLICH UND FROH ZU LESEN, DASS SOVIELE MENSCHEN- und es werden immer mehr- wieder anfangen SELBER ZU DENKEN!”
Wie schafft die BILD das?
Wie schafft Filipp Piatov eine vernünftige Erklärung der Intensivmediziner derart zu verzerren, dass sie als Lüge wahrgenommen wird und das ohne irgendeinen Grund zu nennen?
Die Antwort ist: Storytelling.
Der Inhalt macht nur einen kleinen Bruchteil des Beitrags aus. Der große Rest ist eine tendenziöse Story, die konträr zur Faktenlage steht und mit großem manipulativen Geschick vorgetragen wird. Das Hauptmotiv dieser Geschichte ist die Unfähigkeit der Modellierer — eine Unterstellung, die später durch den BILD-Meinungschef selbst als unrichtig geoutet wird und dennoch für die Konstruktion eines Feindbilds herhält.
Die Details schauen wir uns in den nächsten Abschnitten genauer an.
Manipulative Sprache
Nach einer kurzen Einführung in die Thematik durch den Moderator, in der mehrfach auf die Diskrepanz zwischen der prognostizierten und eingetroffenen Zahl an Corona-Intensiverkrankten hingewiesen und mit visuellen Mitteln untermalt wird, setzt die Moderatorin betroffen ein:
“Was ist da wieder schief gelaufen?”
Bereits hier fällt die manipulative Sprache und Gestik der Beteiligten auf. Während der Moderator im ersten Schritt versucht erste Zweifel an der Glaubwürdigkeit der Zahlen zu sähen, wird im zweiten Schritt der psychologische Anker gefestigt durch die Anschuldigungen etwas sei schief gelaufen und dass dies zum wiederholten Male passiere. Solch ein Anker führt unbewusste Assoziationen beim Zuschauer hervor, was eine verzerrte Urteilsfindung in Richtung des Ankers zur Folge hat. Im Prinzip kennzeichnet er den Ausgangspunkt unserer nun folgenden Gedanken.
Damit wird dem BILD-Meinungschef die perfekte Bühne geboten, die er gekonnt für sich nutzt. Er verstärkt die für ihn in Szene gesetzten Vorwürfe:
“Die Schock-Prognosen des Robert-Koch-Instituts, die Schock-Prognosen der Intensivmediziner waren wieder überhöht, waren wieder falsch.”
Neben den beiden offensichtlichen Steigerungen von “schief gelaufen” nach “überhöht” nach “falsch”, bekräftigt er die Aussage der Moderatorin, dies passiere zum wiederholten Male.
Den Begriff “Schock-Prognosen” mit der Assoziation “falsch” nutzt Filipp Piatov hier für ein Framing, d.h. er gibt eine Suggestion vor wie der Sachverhalt zu deuten ist. Falls Dir der Begriff nichts sagen sollte: “das Glas ist halbvoll” vs. “das Glas ist halbleer” ist ein Beispiel dafür. Da der Framing-Effekt nachweislich das Verhalten der Empfängerin beeinflusst, ist es nicht verwunderlich, dass hier besonders starke Attribute verwendet werden. Das Resultat ist ein enorm kontrastreicher Satz, der implizit die Seriosität des RKIs und der Intensivmediziner untergräbt. Denn in unserer Vorstellung ist eine Prognose assoziiert mit Rationalität und sollte daher stets angemessen sein. Eine alarmierende Nachricht, oder schlicht “Schock-Prognose”, steht im starken Kontrast dazu; sie ist emotional, beunruhigend und sollte daher nicht grundlos erfolgen — und schon gar nicht falsch sein.
Der Satz hat noch eine weitere interessante Eigenschaft zu bieten; und zwar das Wiederholen der Anschuldigung. Es handelt sich hierbei um eine weitere manipulative Technik, die sich Wahrheitseffekt nennt und besagt, dass wiederholte Aussagen glaubhafter werden.
“Wir wissen, man kann Menschen selbst die abstrusesten Dinge einreden, wenn man die eben oft genug wiederholt.”
(Henning Beck, Neurowissenschaftler)
Daher überrascht es nicht, dass Anzweiflungen im Bezug auf die Prognosen über den Beitrag hinweg immer wieder auftauchen mit dem Ziel unsere Skepsis bzgl. deren Wahrheitsgehalt anzuregen.
“Und eigentlich müssten wir auch froh sein, dass es jetzt anders gekommen ist, aber trotzdem hat man wieder mit den Ängsten der Leute gespielt.“,
so die Moderatorin. Offensichtlich soll diese Äußerung einen moralischen Standpunkt ausdrücken, scheitert allerdings in puncto Aufrichtigkeit. Die beiden Weichmacher “eigentlich” und “müssten” spielen den Inhalt der ersten Satzhälfte herunter und das folgende “aber” löscht diesen sogar völlig. Mehr zu diesem Satz im Kontext der wahren Hintergründe besprechen wir später noch.
Besonders hervorzuheben sind die ersten Anzeichen der Emotionalisierung der Thematik. Da induzierte Emotionen das logische Denken beeinflussen, steckt dahinter offenbar die Absicht eine Grundlage für die Akzeptanz einer Geschichte zu schaffen, die unvereinbar mit der Faktenlage ist.
Ich schätze Dir ist nun das Ausmaß der eingesetzten Methoden bewusst und belasse es daher bei den wenigen Beispielen.
Fehlendes Verständnis von Modellierung
Aus mathematischer Sicht wird schnell deutlich, dass hier drei Personen Mutmaßungen von sich geben, die in keiner Weise Modellierung verstehen. Nach knapp zwei Jahren Pandemie sollte bei den finanziellen Mitteln der BILD zumindest Basis-Wissen zu erwarten sein.
Unter Modellierung wird die Entwicklung eines vereinfachten Abbilds der Wirklichkeit verstanden, mit dem Ziel unsere reale Welt zu beschreiben. Und in einem Punkt sind sich die Modellierer einig: Ohne geeignete Maßnahmen reichen die Intensivbetten nicht aus und aufgrund dessen sterben viele Menschen. Daher gilt seit Anbeginn der Pandemie die Ansteckungsrate unter dem Motto Flatten-the-Curve zu verkleinern. Daran hat sich bis heute nichts geändert; negative Kritik und Fingerpointing ändern nichts an dieser Tatsache.
Naturgemäß ist ein Modell nicht präzise. Es existieren unzählige Variablen, die nicht mit einbezogen werden können. Hinzu kommen sich ändernde Begebenheiten sowie Unsicherheiten bei den Daten und der Datenerfassung. Wichtig ist es den Trend zu erkennen und darauf basierend geeignet zu reagieren. Hier sind die Experten gefragt. Unser Bauchgefühl ist für die Einschätzung der Lage ungenügend wie Du in meinem Artikel Warum uns Corona nicht in den Kopf will nachlesen kannst. Insbesondere zeigt das darin beschriebene Beispiel der Bakterienpopulation, dass der oft angeführte Lösungsvorschlag die Intensivbetten zu erhöhen, nur sehr schwierig (und womöglich gar nicht) umsetzbar sein könnte.
In diesem Kontext zeigt sich die Sinnfreiheit der im Beitrag gestellten obligatorischen Frage:
„Brauchen wir die Maßnahmen jetzt überhaupt gar nicht mehr und kann man die jetzt auch so kurzfristig wieder abschaffen?“
Sie dient dem Anheizen der Debatte und ist gezielt auf die Emotionen der Zuschauer ausgerichtet. Für den BILD-Meinungschef ist die Sache klar. In der Vergangenheit hätte es Maßnahmen gegeben basierend auf falschen Prognosen und “jetzt kommen neue Maßnahmen basierend auf weiteren Prognosen”. Ob die Andeutung falsch ist, spielt keine Rolle. Festhaltend an der Tradition der BILD wird ein Feindbild geschaffen — Schuld an den Maßnahmen seien die Modellierer. Das passt nicht nur sehr gut in das simple Setting der Geschichte, sondern vereinfacht auch die eigene Recherchearbeit. Warum sich selbst mit der Komplexität eines Themas auseinandersetzen, wenn es doch viel einfacher ist jemanden die Schuld zu geben?
Große Heuchelei
Dass Emotionalisierung als erzählerisches Mittel eingesetzt wird, haben wir bereits gesehen. Hier werden wir einige Zitate des BILD-Meinungschefs Filipp Piatov hinsichtlich ihrer Konsistenz unter die Lupe nehmen.
“Ich glaube man kann es keinem Experten, keinem Institut, keiner Behörde übel nehmen, dass sie sich mit Blick auf die nächste Welle mehrere Monate im Voraus verschätzt, verrechnet. Viele Dinge kann man einfach nicht berechnen. […] Denn man hat sich hier vermodelliert, verrechnet nicht in Bezug auf die nächsten Monate, sondern auch in Bezug auf die wenigen nächsten Tage.”
Das ist mal Heuchelei vom Feinsten. Würde die BILD statistische Unschärfen nur kritisieren, so wäre dies ein wahrer Segen. Stattdessen kassierte sie eine Rüge vom Presserat für ihre Falschmeldung, Virologe Christian Drosten verwende bei seinen Studien fragwürdige Methoden und unterdrücke Tatsachen. Zusätzlich versuchte die BILD sogar wissenschaftliche Befürworter Drostens in ihre Schmutzkampagne zu ziehen, die in keinerlei Kontakt mit der BILD standen; und demonstrierte damit zugleich wie gleichgültig die Redakteure mit der Rufschädigung unbeteiligter Personen umgehen.
Auf die Unterstellung man habe sich hier “in Bezug auf die wenigen nächsten Tage” verrechnet, gehen wir später noch ein (Spoiler: sie ist falsch). An dieser Stelle ist erstmal interessant zu sehen wie schnell das soeben bekundete Verständnis zu langfristigen Schätzungen in Kritik umschlägt und suggeriert wird es besser machen zu können:
“Ich möchte jetzt nicht den gleichen Fehler begehen wie das RKI und das DIVI und meine eigenen Prognosen stellen und sagen ‘ach, wir kriegen das alles ohne Maßnahmen hin’. Aber wir brauchen da mehr Transparenz. Und wir brauchen auch vielleicht nicht nur diese sogenannte Worst-Case-Kommunikation, dass man immer nur vom schlimmsten Fall ausgeht. Denn es gibt ein massives Glaubwürdigkeitsproblem gerade.”
Transparenz.
Seltsam dieses Wort aus dem Munde eines Mannes zu hören, der hier so viel Aufwand betreibt die reinen Fakten ins falsche Licht zu rücken. Auch der Begriff “Worst-Case-Kommunikation” erscheint sehr paradox im Kontext der folgenden Abbildung. Man könnte meinen es hier mit Satire zu tun zu haben.
Wahrer Ekel packte mich aber bei dem Begriff “Glaubwürdigkeitsproblem”. Denn dazu tragen vor allem Medien wie die BILD bei. Verdrehungen und Fake-News jeglicher Art, Hetze und Diffamierung einzelner Personen und Personengruppen, Rufmord — dafür steht die BILD. Das eigentliche Glaubwürdigkeitsproblem ist nicht jenes, dass die Maßnahmen angezweifelt werden, sondern jenes, dass es Personen gibt, die der BILD Glaubwürdigkeit zusprechen.
Als weiteren Meilenstein kann sich die BILD wohl noch die so oft prophezeite Spaltung der Gesellschaft auf die Fahne schreiben, im Hinblick auf das folgende Zitat:
“Wie soll ich denn als Bürger guten Gewissens sagen ‘tja gut, bislang lagen sie zwei mal falsch, aber dieses mal wird’s schon stimmen’. So geht das nicht, da muss das RKI aufklären, da muss das DIVI aufklären.”
Es wird eine klare Unterteilung in “gut” und “böse” vorgenommen, Zweifler werden bestärkt. Möchte man zu den “Guten” gehören, so wird man quasi dazu aufgerufen die Stimme gegen jene Schuldigen zu erheben, die ihren Pflichten nicht nachkommen.
“Wir müssen in die Details gehen und wissen wie konnte das passieren. Und zwar immer und immer wieder.”
Welche Details, Filipp? Jene Details, die im hier diskutierten Beitrag bewusst verzerrt und ignoriert werden? Oder jene fehlenden Details des Artikels “Was hat Impfen eigentlich gebracht?”, die zeigen, dass für ungeimpfte Ü60-Jährige die Hospitalisierungswahrscheinlichkeit acht mal höher sein könnte anstatt wie suggeriert annähernd gleich?
Wie sieht es mit den Details von einfacheren Themen aus wie der Interpretation einer einfachen Umfrage?
“Knapp 90 Prozent der ARD-Volontäre (Journalisten-Azubis) würden Rot-Grün-Rot wählen (Umfrage) — die meisten ARD-Anstalten senden genau mit dieser Schlagseite.”
Peter Tiede, BILD-Chefreporter (07.09.2021)
Anscheinend ist auch das nicht machbar. Hier wird gezeigt, dass die von der BILD zitierte “Studie” gerade einmal auf 77 befragten Personen beruht und der Saarländische Rundfunk und das ZDF nicht mit inbegriffen sind, sprich, die Umfrage nicht repräsentativ ist.
Zusammenfassend lässt sich sagen, Details und Fakten sind in der Welt der BILD quasi nicht existent.
Einen besonders üblen Beigeschmack hinterlassen aber die aufgesetzte Betroffenheit und unaufrichtige Art all dieser Äußerungen. Einer Institution, die einem prominenten Familienvater auf dem Privatgrundstück auflauert, fahrlässig dessen ganzen Familie in Gefahr bringt und anschließend rechtliche Schritte gegen ihn in Erwägung zieht sowie private WhatsApp-Nachrichten eines Kindes veröffentlicht, dessen fünf Geschwister gerade von der eigenen Mutter getötet worden sind, der kann man mit Nichten irgendeine Form von ethischen Grundsätzen zuschreiben.
Lasst uns zum Showdown kommen und betrachten mit welch brillanter Argumentation der BILD-Meinungschef der Darlegung der DIVI widerspricht.
Die Corona-Toten
Zunächst stellt der Moderator die Glaubwürdigkeit der Intensivmediziner in Frage, also jener Mediziner, die Tag für Tag unter Dauerbelastung für das Überleben vieler Menschen kämpfen. Dabei steht für den BILD-Moderator definitiv fest, dass die Prognosen falsch waren und unterstellt denen, die Jahre mit Studium und Krankheitsforschung verbracht haben, Unehrlichkeit (wer könnte die Lage besser beurteilen als ein allwissender BILD-Moderator, der sich auf das Ablesen von Texten spezialisiert hat?):
“Nun habt ihr ja auch das Robert-Koch-Institut angefragt, auch die Intensivmediziner, den Verband der Intensivärzte. Sind die so drauf, dass die aktuell sagen ‘[…] man liegt nicht immer richtig, in dem Moment lagen wir definitiv falsch’. Sind die so ehrlich?”
Wenn schon ein ganzer Berufszweig unter Generalverdacht gestellt wird, dann muss es sicherlich einen verdammt guten Grund dafür geben. Schauen wir uns mal die Begründung von Filipp Piatov an:
„Also, das Robert-Koch-Institut hatte gestern offenbar keine Zeit, um unsere Anfrage zu beantworten, die Intensivmediziner vom DIVI haben sich geäußert. Professor Doktor Gernot Marx hat gesagt, ja, es ist nicht so eingetreten wie von ihm und von seinen Medizinern prognostiziert. Er sagt allerdings, das lag daran, dass sehr viel mehr Menschen auf der Intensivstation gestorben sind als von den Modellierern prognostiziert. Das heißt es wurden sehr viel mehr Betten frei, weil unerwartet viele Menschen gestorben sind. Das ist erstmal seine Behauptung. Der gehen wir nach. Da wollen wir auch alle Daten wissen. Wir müssen herausfinden was in diesem Dezember passiert ist, warum alle Modellierer derart falsch lagen.“
Unfassbar.
Obwohl der BILD hier nach eigenen Angaben Informationen vorlagen, die die Prognosen im Hinblick auf die Zahl der Intensiverkrankten bestätigen und die eine weitaus größere Tragödie hinter der anfangs beschriebenen Zahlendiskrepanz vermuten lassen, wird der Präsident der Intensivmediziner der Falschaussage verdächtigt.
“Das ist erstmal seine Behauptung.”
Das ist alles. Das ist die gesamte “Argumentation”, in der Filipp Piatov eine gerechtfertigte Grundlage sieht, die Intensivmediziner und Modellierer zu diffamieren. Das ist die “Rechtfertigung”, auf der der gesamte Beitrag aufbaut und wohlüberlegt inszeniert wird.
Dass dieser kleine unauffällige Satz sehr spät genannt wird, hat dabei System. Bis dahin trüben die gestreuten negativen Assoziationen nämlich bereits das Urteilvermögen. Zusätzlich wird eine Auseinandersetzung mit dem womöglich aufflammenden mentalen Konflikt durch eine unmittelbare Ablenkung im Keime erstickt (beachte den Ausdruck von Tatendrang und das wiederholte Aussprechen der Modellierungs-Anschuldigung).
Bemerke auch, dass der BILD-Meinungschef die Begründung des DIVI-Präsidenten nicht einmal mehr als “Lüge” bezeichnen muss, da das Urteil der Zuhörer zu diesem Zeitpunkt bereits gefallen ist. Das bringt implizit weitere Vorteile mit sich: Filipp Piatov wirkt zum einen diplomatischer und zum anderen wird keine unnötige Aufmerksamkeit auf den Satz selbst und die inexistenten Argumente gelenkt.
Das Perfide an dem ganzen Setup ist, dass die Tragödie, die durch die Erklärung der DIVI impliziert wird, vollständig ignoriert wird. Aber was bezweifelt Filipp Piatov eigentlich genau? Die Zahl der gemeldeten Corona-Patienten auf den Intensivstationen ist es schonmal nicht; sie ist ein wichtiger Bestandteil des Beitrags. Übrig bleibt nur die Erklärung, dass er der Zahl der Verstorbenen nicht glaubt — und nur so wäre die Schlüssigkeit seiner Story zu retten. Wir kommen zu folgenden beiden Möglichkeiten:
- Entweder diese Verstorbenen gab es nicht, was bedeuten würde, dass die Aussage von Prof. Dr. Gernot Marx nicht ganz richtig war.
- Oder es gab mehr Tote als erwartet und die Story des BILD-Meinungschefs beruht auf einem unbegründeten Verdacht.
In Bezug auf den möglichen Reputationsverlust von Herrn Marx erscheint mir der erste Punkt äußerst unwahrscheinlich. Die BILD hingegen besitzt mit ihrer tendenziösen Meinungsmache einen ohnehin zweifelhaften Ruf, was den zweiten Punkt viel wahrscheinlicher wirken lässt und durch die vorliegenden Daten bestätigt wird.
In der von der BILD kritisierten Prognose vom 02.12.2021 bewegt sich die Zahl der wöchentlichen COVID-19-Todesfälle in den Kalenderwochen 44 bis 47 in der Größenordnung 1000 bis 1500.
Vergleichen wir das vorige Diagramm mit jenem aus dem drei Wochen später erschienenen Lagebericht, so zeigt sich, dass es — wie in dem Diagramm angekündigt — Nachübermittlungen gegeben hat und die Zahlen zu den Kalenderwochen 45 bis 47 nun deutlich höher sind. Sie durchbrechen die 1500er Marke und reichen bis in die Größenordnung um 2250.
Um es auf den Punkt zu bringen: Der DIVI-Präsident hat die Wahrheit gesagt. Und um sich davon zu überzeugen, hätte der BILD-Meinungschef nur einen kurzen Blick in den zum Sendezeitpunkt bereits mehrere Tage vorliegenden Lagebericht des RKI werfen müssen. Daneben gab es in Form von täglichen Situationsberichten weiteren Kontext zu den Geschehnissen im Dezember.
“Da wollen wir auch alle Daten wissen. Wir müssen herausfinden was in diesem Dezember passiert ist, […].”
Damit ist ist klar, dass diese Behauptung tatsächlich haltlos ist und keinerlei journalistisches Interesse für die Aufarbeitung der Daten besteht. Filipp Piatov passt Fakten lieber der gerade angesagten Meinung der BILD an oder ignoriert sie gänzlich. Und um sich nochmal den bitteren Beigeschmack seiner konstruierten Geschichte im Hinblick auf die Verstorbenen vor Augen zu halten, erinnere ich an die im ersten Abschnitt zitierte Aussage:
“Und eigentlich müssten wir auch froh sein, dass es jetzt anders gekommen ist, aber trotzdem hat man wieder mit den Ängsten der Leute gespielt.“
Ja, wir müssen echt froh sein, dass es anders gekommen ist und mehr Menschen gestorben sind als gedacht. Jetzt gibt es endlich wieder genug Platz. Man hat hier wahrlich mit den Ängsten der Leute gespielt. /sarcasm off
Und noch weiteres können wir aus der in diesem Abschnitt erörterten Aussage lesen bzgl. der Beantwortung von BILD-Anfragen.
Eine Anfrage der BILD sieht oftmals so aus, der betroffenen Behörde oder Person nur wenige Stunden für eine Stellungnahme einzuräumen. Im Fall von Christian Drosten hat der BILD-Meinungschef höchstpersönlich geschrieben und ihm gerade einmal eine Stunde für die Antwort gegeben.
Bei Ausbleiben einer Antwort wird der Person oder Behörde unterstellt sich keine Zeit genommen zu haben. Selbst wenn es hier im Falle des RKIs stimmen sollte, wäre es nachvollziehbar und legitim. Warum sollte es seine Zeit für ein unseriöses Boulevardblatt verschwenden, von dem es als Deutschlands oberste Panik-Behörde betitelt wird?
Fazit
Ich finde es unfassbar, welch eine Dichte an falschen Aussagen und Unterstellungen dieser kurze Beitrag enthält, wie manipulativ Sprache eingesetzt wird und wie Behauptungen mit der Zeit verstärkt werden. Und das nur zu Gunsten einer äußerst fragwürdigen Story.
Ein unaufrichtiger Mensch, der nachweislich seine Meinung beliebig anpasst und sich selbst widerspricht, kritisiert ganze Personengruppen, die ihrer Arbeit in einem höchst dynamischen Umfeld mit wissenschaftlicher Strenge nachgehen. Trotz all ihrer Bemühungen die Arbeitsergebnisse auf dem neusten Stand zu halten, wirft ihnen der BILD-Meinungschef Intransparenz vor und stellt eine exklusive Erklärung der DIVI als reine Behauptung dar. Die Scheinheiligkeit ist kaum zu ertragen.
Ich erinnere daran, dass es hier um Menschen geht, die sich in ihren letzten Stunden an einem Beatmungsgerät geschlossen im Überlebenskampf befanden. Aussagen zu diesem höchst sensiblen Thema müssen mit dem nötigen Respekt hinsichtlich der Betroffenen erfolgen und fundiert sein. Hingegen gibt der BILD-Meinungschef nicht nur haltlose Anschuldigungen ohne Rücksicht auf eben jene Betroffenen von sich, er unterstellt zusätzlich, die öffentlich frei zugänglichen Daten gäbe es gar nicht. Auch wenn es drastisch klingen mag, für mich gleicht es einer Leugnung der Corona-Toten im Dezember. Bravo! Du musst wirklich Stolz auf dich sein, Filipp.
Was die Verantwortlichen angeht, frage ich mich, wie man so etwas befürworten kann. Die BILD ist und bleibt eine moralisch maximal degenerierte Institution, die sich verachtungsvoll auf Kosten anderer bereichert. Ob man so etwas beruflich unterstützt und wie die eigene charakterliche Weiterentwicklung folglich aussehen wird, ist am Ende eine einfache persönliche Entscheidung.
Alarmierend sehe ich die Tatsache, dass es doch einige Personen gibt, die derart tendenziöse Beiträge glauben. Hier geht es nicht um Meinungen, die folgenlos bleiben. Die erzeugte Verunsicherung kann lebensgefährlich sein wie die Hospitalisierungswahrscheinlichkeit der Ü60-Jährigen verdeutlicht. Mitunter zeichnen sich extreme Handlungen wie Drohungen gegenüber impfenden Ärzten sowie Brandstiftungen an Impf- und Testzentren in der Bevölkerung ab.
Vielleicht ist doch mehr dran an einem meiner LinkedIn-Posts und die BILD trägt aufgrund ihrer gezielten Verbreitung falscher Informationen sowie Diffamierung gewisser Personen und Personengruppen eine erhebliche Verantwortung an vielen Corona-Toten. Vielleicht ist sie sogar Treiber für die eben genannten Straftaten. Wer weiß? Solange der Profit stimmt, scheint es den Herausgebern wohl ziemlich egal zu sein.
Zu guter Letzt möchte ich noch erwähnen, dass das Schreiben dieses Artikels mich einiges an Kraft gekostet hat. Ich musste ihn einige Male vor mir herschieben, da meine Laune deutlich sank bei dem Gedanken mich mit dieser Thematik weiter auseinanderzusetzen. Gleichzeitig bin ich froh mit diesem Text meinen Frust über die BILD von der Seele geschrieben zu haben.
Dabei wurde mir das sehr bedenkliche Geschäftsmodell der BILD nochmals bewusst: Sie entfacht Wut. Mehr nicht. Sei es bei denen, die den Unfug glauben oder jenen, die ihn nicht glauben und sich über die zweifelhafte Darstellung aufregen. Vielleicht ist das Beste, dieses Wutblatt so gut es geht zu ignorieren und zu hoffen, dass sich mit der Zeit mehr Leserinnen davon distanzieren.
Ich bin froh mich nun wieder den schöneren Dingen im Leben zuwenden zu können.
Anhang
Mehr Kontext
Laut Statistischem Bundesamt stieg die Zahl der COVID-19-Todesfälle ab Mitte Oktober 2021 deutlich an, erreichte Anfang Dezember ein zwischenzeitliches Maximum und pendelte sich Mitte Januar 2022 wieder ein.
Auf Statista findest Du eine gute Grafik zur Anzahl der Infektionen mit COVID-19, Hospitalisierungen und Todesfälle in Deutschland nach Meldewoche.
Eine Linksammlung zu der monatlichen Übersterblichkeit in Deutschland findest Du hier.
Im DIVI-Intensivregister sind viele erkenntnissreiche Daten zu finden:
Einen hervorragenden Überblick über die Lage bietet das RKI mit ihren aktuellen Situationsberichten, Wochenberichten und COVID-19-Trends im Überblick.
Eigene Gedanken und Auswertung
Notiz: Nachfolgend sind einige Gedanken zu hauptsächlich selbst erstellten Grafiken zusammengetragen. Das Python-Notebook zur Erstellung der Grafiken sowie die zugehörigen Datenquellen sind in meinem GitHub-Account unter Corona-Death-Rate-Calculations zu finden. Die berechneten Todes- und Hospitalisierungsraten bezeichne ich als naiv, da sie auf den absoluten Zahlen der Infektionen, Hospitalisierungen und Todesfälle innerhalb der gleichen Woche basieren. Hier wären genauere Modelle denkbar, die den Zeitraum zwischen Infektion, Hospitalisierung und Tod berücksichtigen. Viel Spaß beim Experimentieren mit dem Notebook!
Betrachten wir die Anzahl der COVID-19-spezifischen Infektionen, Hospitalisierungen und Todesfälle etwas näher, so zeigt sich in der zweiten Jahreshälfte von 2021 ein interessantes Bild:
Nachdem die Hospitalisierungsrate von Mitte Juli (KW 28) bis Ende Oktober (KW 42) annähernd gleich war, fiel sie im Anschluss bis zum Ende des Jahres kontinuierlich um annähernd die Hälfte. Im Gegensatz dazu stieg die Todesrate unter den Hospitalisierungen ab Mitte Juli kontinuierlich an und erreichte in KW 48 ihren Höhepunkt. Anschließend begann sie zu fallen. Beachte, dass eine gleich bleibende Hospitalisierungsrate nicht bedeutet, dass die gleiche Anzahl an Personen im Krankenhaus liegt, sondern dass der Anteil der infizierten Personen gleich bleibt. Die Hospitalisierungen selbst können stark schwanken (wie wir gleich sehen werden).
Dass im Dezember eine kritische Situation vorhanden war, sehen wir an der folgenden Abbildung. Es waren weniger als 4% an freien COVID-spezifischen ITS-Betten vorhanden. Mit der steigenden Anzahl an Hospitalisierungen zeichnete sich eine mögliche Überlastung der vorhandenen Intensivbetten ab. Damit werden die Entscheidungen zu weiteren Maßnahmen nachvollziehbar.
Womöglich noch nachvollziehbarer werden die Entscheidungen, wenn wir die absoluten Zahlen zu den Hospitalisierungen und Gesamt-Sterbefällen über einen längeren Zeitraum betrachten. Wie Du nachfolgend siehst, ist die zugrunde liegende Dynamik solcher Verläufe schwer voraussehbar.
Stell dir also vor du befändest dich in KW 48 2021, d.h. im Monatswechsel November/Dezember 2021 (berücksichtige, dass die Grafikverläufe nach und inklusive KW 48 zu diesem Zeitpunkt noch nicht vorhanden waren; vergleiche auch gerne mit den echten Diagrammen aus dem Abschnitt “Die Corona-Toten”):
- Die letzten 5 Wochen wurde ein starker Anstieg in den Hospitalisierungen beobachtet.
- Anhand des Grafik siehst du, dass die Hospitalisierungen letztes Jahr noch höher waren.
- Derzeit sind noch 3,89% der COVID-spezifischen ITS-Betten frei.
- Die Zahlen der vergangenen 3 Wochen stehen noch nicht endgültig fest und werden mit der Zeit aktualisiert.
- Zusätzlich befindet sich die Zahl der Infektionen auf einem Höchststand.
Welche Entscheidung triffst du im Hinblick auf die Maßnahmen?
Weitere interessante Einblicke ergeben sich, wenn man aus den Hospitalisierungs- und Todesraten herauszoomt und einen längeren Zeitverlauf der Kurven betrachtet. In der folgenden Abbildung sind drei Maxima in den Todesraten der Hospitalisierungen zu sehen. Insbesondere sind die ersten beiden Anstiege deutlich stärker als der letzte. Mache Dir gerne Gedanken dazu. In wie weit wirken sich die verschiedenen Corona-Mutationen auf die Hospitalisierungs- (rot) und Gesamt-Todesrate (grün) aus? In wie weit die Impfungen? Welche Ursachen fallen Dir sonst noch ein?
Die BILD bleibt bei ihrer Meinung
Trotz der mangelnden Auseinandersetzung mit der Thematik, bleibt die BILD bei ihrem Kurs. So zieren Aufschriften wie
- “Diese Politik ist nicht mehr logisch”,
- “Es gab nie eine Überlastung des Gesundheitssystems”,
- “Mit Menschenverstand regieren, nicht mit Angst und Panik”
die Thumbnails ihrer Videos. Kein weiteres Kommentar meinerseits…